Startseite
 

Weniger ist mehr. Vom Reiz der Nähe und von der Lust leichter Last

So manche umfangreiche Fotoausrüstung wird ein-, zweimal im Jahr in fremde Länder und Kontinente expediert, um den Rest des Jahres im Schrank zu verschwinden. Ich halte es mit meinem Equipment genau umgekehrt. Mein vorzüglicher Fotorucksack, voll bepackt gut 25 Kilogramm schwer, die rund 10 Kilo Stative nicht eingerechnet, hat mich noch in keinen einzigen Urlaub begleitet, aber so manches Wochenende auf meinem Rücken oder – lieber noch – im Fahrradanhänger die Felder und Wälder meiner Heimat erkundet.

Nun lebe ich keineswegs in der Provence oder auf den Malediven, sondern in einem Dörflein im südlichen Schleswig-Holstein, eine halbe Velo-Tagesreise von Deich und Küste, von Hügeln oder gar Bergen lieber zu schweigen. Aber gerade das macht für mich einen großen Teil der Faszination Fotografie aus – dem scheinbar Unscheinbaren neue, unerwartete Seiten abzugewinnen. Zudem hat die Lichtbildnerei in der Nachbarschaft ganz handfeste Vorteile:

Wenn ich nicht auf großer Reise bin mit womöglich umfangreichem Programm, sondern „nur“ im Wäldchen vor der Haustür, habe ich alle Zeit dieser Welt, mich mit Balgen und anderem „umständlichem“ Nahzubehör dem Mikrokosmos zu widmen.

Wenn ich feststelle, dass das Licht ungeeignet ist, merke ich mir den Standort fürs nächste Wochenende und mache eine gedankliche Notiz, zu welcher Zeit ich etwa da sein sollte. Einige attraktive Motive meiner näheren Umgebung sind sogar in der Landkarte eingetragen, einschließlich Blickrichtung, geeigneter Brennweite und optimaler Tages- beziehungsweise Jahreszeit.

Wenn ich mich durch eine Gegend bewege, die ich bereits intensiv kenne, muss ich nicht mehr darauf achten, nur ja kein spektakuläres Panorama zu verpassen, sondern habe noch Augen für die kleinen Details am Wegesrand.

Ich bin an keine Routenplanung gebunden, muss nicht zu einer bestimmten Zeit im Hotel oder am Bahnhof sein – derart befreit macht es erst richtig Spaß, die Möglichkeiten der Fotoausrüstung bis an die Limits auszukosten.

Natürlich fotografiere ich auch auf Reisen. Aber meines Erachtens steht in einer unbekannten Umgebung erhöhter technischer Aufwand einer befriedigenden Bildausbeute eher im Wege:

Hätte ich von 18 bis 400 mm sämtliche Brennweiten dabei, würde ich die Landschaft nur noch in Klischees wahrnehmen. Ich suchte in der Toskana nach Alleen über Hügelketten, die sich mit dem Tele zu einer attraktiven Grafik verdichten lassen, und in Schottland nach weiter Landschaft mit grandiosen Wolkenformationen, nur um daheim nach der Filmentwicklung feststellen, dass ich nicht zur optimalen Tageszeit auf dem Gipfel oder an der Steilküste war und meine mit viel Schweiß erkaufte Fotografie nur ein müder Abklatsch der Bilder ist, wie ich sie aus „Geo“ und „National Geographic“ kenne. Und während der ganzen Schlepperei würde ich es womöglich versäumen, diejenigen Aspekte der Landschaft in mich aufzunehmen, die ich noch nicht aus Hochglanzmagazinen kenne.

Deshalb habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, unabhängig davon, wo und mit welchem Verkehrsmittel ich fernab der Heimat unterwegs bin, nicht mehr Ausrüstung mitzunehmen, als ich auch bei einer Bergwanderung tragen wollte. Was das im einzelnen ist, wechselt nach Lust und Laune. Das können durchaus mal zwei extreme Brennweiten sein, etwa 18 plus 180 mm; aber meine aktuelle Lieblings-Reisekombination besteht aus 35er Shift [pdf-Datei, ca. 17 Kilobyte] und 105er Makro nebst vollmechanischem Kameragehäuse, ergänzt durch den Sekonic 508, den für meine Zwecke besten Handbelichtungsmesser des Marktes.

35 plus 105 mm? Klingt mager, aber damit geht eine ganze Menge. Manchmal kommt sogar nur das 1,8/50 mm mit auf Reisen, ohne dass ich vor Ort etwas vermisse. Für jemanden, der es gewohnt ist, aus der vollen Kameratasche zu schöpfen, kann so eine vermeintliche Beschränkung regelrecht den Horizont erweitern. Befreit von der physischen Last eines halben Zentners Technik und von der psychischen Last, nun auch dem Equipment angemessene Fotos nach Hause bringen zu müssen, kann man sich auf die Reize der Umgebung konzentrieren, statt permanent nach der geeigneten Brennweite zu wühlen. Und die Bilder, die so entstehen, haben eine Chance, für sich selbst zu wirken, ohne die Botschaft zu vermitteln, „hier hat jemand irrsinnig viel Material durch die Landschaft getragen“.

 
land6.jpg Irgendwo auf dem Weg von Frankreich nach Belgien, kurz nach Sonnenuntergang. 1,8/50 mm, kein Stativ, offene Blende, ca. 1/60sec auf Agfa Scala