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Musica II

Februar 2005

Der gegenwärtig gigantische Hype beiderseits des Atlantiks wäre normalerweise Grund zur Skepsis, aber in diesem Fall ist die Euphorie gerechtfertigt: Conor Oberst ist als Songwriter ein Ausnahmetalent. Und sein „Land Locked Blues“ zählt zum Schönsten, was ich in diesem an feinen Platten nicht armen Jahrzehnt bislang gehört habe. Zu finden ist dieses Meisterwerk auf

I’m Wide Awake It’s Morning

Und dort ist es auch qualitativ keinesfalls allein, denn vom morbiden Intro zu „At the Bottom of Everything“ bis zur druckvollen Beethoven-Adaption „Road to Joy“ leistet sich diese Scheibe nicht die kleinste Schwäche. Gemessen an dem, was ich aus dem früheren Werk von Obersts Band Bright Eyes kenne, ist dies eine beachtlich reife, geradezu entspannte CD voll präzise beobachteter und erzählter Details, die, nur vordergründig konventionellen Folk-Charme verbreitend, beim bewussten Hören ganz subtil verstörend wirkt – und das ist, finde ich, das Höchste, was Musik erreichen kann.

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Auch Justin Sullivan schafft das neuerdings spielend. Zwar schleudert der alte Haudegen der Welt bisweilen immer noch seinen geballten Zorn entgegen, wenn er mit seinen Kumpels von New Model Army tourt (ein Vergnügen übrigens, das wir uns möglichst häufig gönnen). Aber zwischendurch fährt er dann mal auf einem Frachter über den Atlantik und bannt dieses Erlebnis in einen Songzyklus von berückender Schönheit:

Navigating By the Stars

Hier weicht die bei NMA stets hörbare Wut durchgängig einer verhangenen, aber nicht aussichtslosen Melancholie: „maybe it’s time to turn this ship around“. Wer für die unaufdringlichen Reize eines regnerischen Novembertags am Meer empfänglich ist, der wird diese Platte lieben.

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Auch sehr schön ist es im November, einen feinen Grüntee aufzubrühen und sich unter drei Wolldecken in der Kuschelecke einzurollen. Dazu passt dann perfekt meine musikalische Entdeckung des Jahres 2004:

Out Of Season

von Beth Gibbons und Rustin’ Man. Was für eine Stimme! Nicht wirklich schön, irgendwie diffus-verraucht und belegt. Aber die Kombination mit zarten, fast zeitlupenartigen Pianomelodien und gedämpften Streicher-Arrangements verbreitet einen fast schon unirdischen Charme.

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Die Grande Dame der Reibeisenstimmen bleibt dennoch Marianne Faithfull, der weibliche Keith Richards, wie Newsweek zum Erscheinen ihres 2004er Albums schrieb. Und mit ebendiesem,

Before The Poison,

ist sie wieder auf dem hohen Niveau ihres Klassikers „Broken English“ angekommen. Mit diesem gemein hat die neuere Scheibe, dass sie trotz ihrer unglaublichen Bandbreite von muskulösen Rock’n’Roll-Stampfern bis zu hingehuschten Balladen vollkommen homogen wirkt – unter anderem das Verdienst von Songwritern wie Nick Cave und PJ Harvey. Dennoch lässt sich ein Höhepunkt identifizieren: Das finale „City Of Quartz“ ist ein perfide sich im Kopf festsetzendes Schlaflied zu einer trügerisch simplen Spieluhr-Melodie und Marianne Faithfull at her very best.

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Wenn die viel zitierte Renaissance der deutschsprachigen Popmusik darin besteht, dass auf MTV zwischen zwei Werbeblöcken die Söhne Mannheims ihre zähe Schleimspur hinterlassen dürfen und dass von überall her Annett Louisans triviale Reime über nicht minder belanglose Beziehungsprobleme erklingen, dann gute Nacht … Aber zum Glück kommt hier zu Lande auch der weniger massenkompatible Geschmack hin und wieder auf seine Kosten. Zum Beispiel bei der 2004er Platte von Reinhard Mey. Genau: Das war der mit „Über den Wolken“ – doch das ist lange her. Auf

Nanga Parbat

steht der Chansonnier mit beiden Beinen auf der Erde (wenngleich er den Schalk im Nacken streckenweise nicht verleugnen kann). Vor allem das Titelstück beeindruckte mich sehr: eine einfühlsame Vertonung der letzten gemeinsamen Bergtour der Messner-Brüder. Dazu gesellen sich kluge Reflexionen über Religiosität und allerlei aufmerksame Alltagsstudien, gewohnt liebevoll mit der Gitarre begleitet – nichts, was sich zur Zweitverwertung als Klingelton aufdrängt, aber dafür auch im oft vernachlässigten Bereich zwischen den Ohren wirksam.

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Johnny Cash würde ich es gegen jede Vernunft von Herzen gönnen, dass sein Glaube an ein Leben nach dem Tode nicht gegenstandslos war. Fare thee well! Und dabei hatte ich mich noch auf viele

American Recordings

gefreut. Wer sie immer noch nicht besitzt: Am besten gleich alle kaufen und andächtig bewundern, wie fragil und dennoch souverän der große alte Mann Nick Caves „The Mercy Seat“ oder, größer noch, „Hurt“ von den Nine Inch Nails interpretiert. Und der Vollständigkeit halber sollte, wer dabei auf den Geschmack kommt, auch noch die prächtig gestaltete Dreier-Box Love God Murder erstehen, die einen brauchbaren Rundblick über Cashs lange Karriere bietet.

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Das Jahr 2004 brachte nicht nur Schallplatten, sondern auch einige interessante Konzert-DVDs. Während ich Welcome to Sunny Florida von Tori Amos vor allem gekauft habe, um in Erinnerungen an ihr jüngstes Konzert zu schwelgen, erfüllt God is in the House von Nick Cave den entgegengesetzten Zweck. Ihn habe ich nämlich noch nie live gesehen: Entweder hatte ich partout keine Zeit, oder er spielte in grauslich-unpassenden Locations. Beim Album Greendale von Neil Young schließlich ist die DVD-Edition Pflicht, weil er zur CD-Einspielung seine Kumpels von Crazy Horse mit ins Studio gebracht hat. Und wenn man einen seiner Solo-Acoustic-Abende erlebt hat, kann man nicht umhin, die ansonsten so geliebte Schrummel-Instrumentierung bei diesem Liederzyklus für eine der wenigen gravierenden Fehlentscheidungen des Altmeisters zu halten.

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Was das Jahr 2004 leider nicht brachte, war die neue Platte von Kamary Phillips. Diesen großartigen Musiker haben wir kennen gelernt, als er als Support Act für Aimee Mann unterwegs war, und für unsere Begriffe war er mit seiner unglaublichen Ausstrahlung und Spielfreude die Hauptattraktion des Abends. Mittlerweile hat er sich mit seiner Plattenfirma BMG überworfen, so dass Every Little Thing nur bei seinen Konzerten verkauft zu werden scheint. Also trösten wir uns immer noch mit seinem Erstling „Kamary“ und hoffen ansonsten, dass er endlich mal wieder nach Norddeutschland kommt, statt immer nur jenseits des Äquators zu touren …

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Und dann gibt’s da noch diese Scheiben, die man eher selten gemütlich auf dem Sofa liegend durchhört, die aber beispielsweise für mehrstündige Autofahrten unverzichtbar sind. An erster Stelle ist da Made in Japan von Deep Purple zu nennen: Heiliger Lärm in Reinkultur, wie man ihn heute allen verschwitzten Bemühungen langhaariger Tätowierter zum Trotz kaum noch hört, ist hier doch allzu oft das Haupthaarschütteln zur wohlfeilen Pose degeneriert; aber hin wieder hatten auch die folgenden Jahrzehnte noch robuste Highlights zu bieten: beispielsweise das unverwüstliche Nevermind von Nirvana, und natürlich die grandiose Scheibe The Battle of Los Angeles von Rage Against The Machine (die auf der Autobahn allerdings fast schon zu aggressiv ist, eher geeignet für zähe Nachtschichten in der Redaktion …).

Da meine glücklicherweise seltenen Autofahrten in jüngerer Zeit allerdings meist in Begleitung zweier Kleinlebewesen stattfinden, deren Hörgewohnheiten sonst eher zwischen Benjamin „Törö“ Blümchen und Detlev „Dibididibdibyeahyeah“ Jöcker vagabundieren, verkneife ich mir on the road lieber Blackmore, Cobain und De La Rocha. Dort greife ich dann lieber zum <outing> US-Mainstream in Gestalt dreier Texanerinnen, die ich bis ca. 2003 nur peripher wahrgenommen und vorschnell in die Schublade „Barbecue Spices“ wegsortiert hatte. Aber dann kam ihre Platte Home, und seither sind die Dixie Chicks für mich salonfähig. Diese Scheibe enthält reichlich Country-Tradition in allerfeinster Handarbeit und mit frischen, frechen Texten, sie ist musikalisch sehr vielfältig und mitunter trotz aller coolen Professionalität der Ladies überaus anrührend (Anspieltipp: „Top of the World“). Da wird die A7 zur Route 66 – und kein Familienmitglied hat Grund zum Meckern. „Home“ gibt es übrigens auch in einer Deluxe-Edition mit Konzert-DVD, und selbst wenn die drei Mädels auch zusammen nicht annähernd die Aura einer Margo Timmins besitzen, hört das Auge hier doch gerne mit :-)