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Im Reich des gehobenen Trübsinns

Oktober 2002

Dem Web habe ich manchen wertvollen Hinweis auf tolle Musik zu verdanken; da ist es nur fair, dass ich endlich auch mal Einblicke in mein CD-Regal gewähre. Den folgenden Platten ist gemein, dass sie zu den Favoriten meiner Musiksammlung gehören und dass sie in den Hitparaden kommerzieller Radiosender eher nicht gespielt werden — kausale Zusammenhänge zwischen beiden Eigenschaften dürfen vermutet werden.

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Aller Anfang ist leicht. Mit wem sonst sollte ich diese Zusammenstellung beginnen als mit Gustav Mahler? Keine andere Musik steht mir auch nur annähernd so nahe wie seine. Ein Vergleich erlaubt sich allenfalls mit der Literatur: Wie Marcel Prousts Opus magnum „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erschließen Mahlers Kompositionen ein Paralleluniversum mit gleichwohl deutlichen Bezügen zum Jetzt und Hier, in dem sich zu verlieren unendlich reizvoll ist. Um allerdings aus der Vielzahl klassischer Mahler-Einspielungen eine bestimmte zu empfehlen, fehlt mir der Überblick: Ich bin mit Bernsteins Aufnahmen des Gesamtwerks meist glücklich und anderweitig nicht sonderlich gut sortiert. Daher hier lieber der Hinweis auf eine recht eigenwillige Platte:

Uri Caine/Gustav Mahler, „Primal Light“, Winter&Winter 1997

Eine Warnung vorab: Dieses Album dürfte Anhängern konventioneller Klassik übel aufstoßen. Nicht genug, dass es nur „Schnipsel“ aus Mahlers Œuvre versammelt, werden diese mitunter sehr frei interpretiert — überwiegend in Jazz-typischer Instrumentierung, aber wenn es sein muss, auch mal unter Einbeziehung eines Discjockeys. Doch die Begegnung eines Wegbereiters der Moderne mit dem Modern Jazz des späten 20. Jahrhunderts offenbart manche überraschenden Perspektiven: Da mutiert etwa der dritte Satz der 1. Sinfonie zu reinstem Klezmer und macht so Mahlers jüdische Wurzeln überdeutlich. Eine rundum phantastische Scheibe für Leute ohne Scheuklappen.

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Bleiben wir noch einen Moment in der Jazz-Abteilung. In diesem Genre habe ich ein spezielles Faible für Pianisten und hier insbesondere für Thelonious Monk, der es wie kaum ein anderer verstand, auch unerfahrenen Hörern die Schönheit des Dissonanten zugänglich zu machen. Besonders deutlich wird das bei seinen Solo-Einspielungen:

Thelonious Monk, „Monk Alone — The Complete Columbia Solo Studio Recordings 1962—68“, Sony/Columbia 1998

Anders als Caines Mahler-Interpretationen, die ihre Reize vorzugsweise spät abends bei einem schweren Single Malt entfalten, ist Monks Spiel für mich ganztageskompatibel. Die hier versammelten Klassiker, teils in mehreren Variationen vertreten, eignen sich im Prinzip sogar als Hintergrundbeschallung eines romantischen Essens, haben aber im Gegensatz zu mancher leicht verdaulichen Salonjazz-Kompilation mehr als genug Substanz, um auch intensivstem Nur-Hören standzuhalten.

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Piano spielt mein nächster Favorit auch. Vor allem aber schreibt er großartige Songs. Wer Nick Cave in den Achtzigern kennen gelernt hat, hätte wohl kaum eine größere Summe darauf gewettet, dass der musikalische Berserker aus Wim Wenders’ „Himmel über Berlin“ das neue Jahrtausend überhaupt erlebt, geschweige denn sich selbst treu bleibt, ohne zur berufsjugendlichen Karikatur seiner selbst zu werden. Aber Cave gehört zu den raren Vertretern seiner Zunft, die mit zunehmendem Alter immer noch besser werden, wie er vor allem mit seinem 2001er Album überzeugend unter Beweis stellt:

Nick Cave and the Bad Seeds, „No More Shall We Part“, WEA/Warner 2001

Ganz ohne das gelegentliche Pathos früherer Jahre, auch nicht mehr obsessiv blutrünstig — was Nick Cave und seine Mitstreiter hier aufgenommen haben, sind schlicht perfekte Balladen über Liebe, Religiosität und den Tod. Melancholisch, manchmal zynisch, aber von der ersten bis zur letzten Minute schön.

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Mit gewisser Berechtigung ließe sich behaupten, mein Musikgeschmack bediene die gesamte Stimmungs-Bandbreite zwischen Trübsinn und Depression. In den allerdunkelsten Tiefen meines CD-Regals findet sich ein ganz besonderes Kleinod:

Ammer/Einheit, „Frost 79°40’“, FM451 2000

Andreas Ammer und F.M. Einheit haben die tragische Geschichte von Robert F. Scott, dem Verlierer des Rennens zum Südpol, zu einer zutiefst verstörenden Elektro-Oper verarbeitet. Lesungen aus Scotts Tagebüchern wechseln sich ab mit Sinustönen, der klinisch-distanzierten Definition eines White-outs und dem Sphärengesang von Gry als personifizierter Sturm und Kälte: „You are freezing to death“ — und auch vor den Lautsprechern wird es entsetzlich kalt.

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Sanfte Wärme verbreitet hingegen die unvergleichliche Stimme von Margo Timmins. Weshalb das kanadische Blues-Rock-Folk-Quartett Cowboy Junkies hier zu Lande immer noch keine Arenen füllt, ist mir ein Rätsel — aber der stets intimen Atmosphäre eines CJ-Konzerts kommen kuschelige Säle und die physische Nähe zu der charismatischen Sängerin und ihren hoch konzentrierten Begleitern sehr entgegen. Wer sie nicht kennt, sollte unbedingt mit ihrem frühen Meisterwerk beginnen:

Cowboy Junkies, „The Trinity Session“, 1988/RCA 1990

Mit einfachsten Mitteln live aufgenommen in einer Kirche in Toronto, nimmt „The Trinity Session“ im Gesamtbereich nicht-klassischer Musik meiner CD-Sammlung unangefochten die Position des Zentralheiligtums ein. Der einzige Fehler dieser wundervollen Platte besteht darin, dass sie nicht ewig weitergeht. Aber schließlich gibt es ja noch rund ein Dutzend weiterer Cowboy-Junkies-Scheiben, von denen hier repräsentativ für die stilistische Bandbreite der Kanadier „Pale Sun Crescent Moon“ und „Open“ erwähnt seien.

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Bei ihrer 2001er Konzertreihe in Deutschland wurden die Cowboy Junkies begleitet von einem US-Duo namens Over The Rhine, von dem ich bis dato noch nichts gehört hatte, das mich aber auf Anhieb überzeugte. Zu hören gab es während des viel zu kurzen Auftritts, Schicksal aller „Special Guests“, fragile Folk-Nummern, getragen von Karin Bergquists dunkler Stimme, die auf völlig andere Art ähnlich gefangen nimmt wie die von Margo Timmins. Einen durchweg hörenswerten Eindruck vermittelt diese CD:

Over The Rhine, „Good Dog Bad Dog — The Home Recordings“, Back Porch/Virgin 2000

Zum Entstehungszeitpunkt dieses Textes, im Herbst 2002, scheint es „GDBD“ in Deutschland nur als recht teuren US-Import zu geben. Aber wer für feine, handgemachte Musik mit oft traurigen, immer aber intelligenten Texten empfänglich ist, investiert sein Geld hier sicher nicht schlecht.

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Und noch eine ganz neue Bekanntschaft: „We are now in the restless middle — perhaps the end — of a new ,Belle Epoque‘“, heißt es auf der Website der Weimarband. Ganz in diesem Sinne widmen sich die US-Amerikaner um Jim Bauer der Countryfizierung europäischer 20er-Jahre- Cabaret-Musik. Klingt schräg? Klingt schräg! Dada ist in Text und Musik allgegenwärtig, meine ersten Assoziationen vagabundierten zwischen Poems For Laila und den Theater-Soundtracks eines Tom Waits.

The Weimarband, „Sturm ’n’ Twang“, Breathing Room 2002

Auf dieser mit rund 30 Minuten arg kurzen Platte sorgt das Zusammenspiel der Rhythmus-Sektion einer Rockband mit traditionell eher dem Zirkus zugeordneten Instrumenten für ein äußerst unkonventionelles, dennoch sehr eingängiges Klangbild. Und wer mit einer derartigen Inbrunst Zeilen intoniert wie „We will ride rays of light in our babies’ eyes“, kann meiner Sympathie sicher sein …

 
Zweiter Teil