Apocalypse nö

 „Böller statt Brot“ lautete auch in diesem Jahr wieder die Devise in unserem vermeintlich beschaulichen Wohnviertel. Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit am Silvesterabend schritt Freund Spießer zum streng ritualisierten Saurauslassen; es wurde aus allen Rohren geballert, als gelte es einen Kriegsfilm in extremer Überlänge zu vertonen. Kanonenschläge ringsumher mindestens im Minutentakt, dazu die ganze Bandbreite eher akustisch als optisch opulenter Pyrotechnik: Nichts spricht dafür, dass unsere Kleinkinder in dieser Nacht die einzigen waren, denen ihr dringend benötigter Schlaf zu vernünftiger Zeit versagt blieb – auf Kosten nicht zuletzt der elterlichen Nerven.

Nun hat kein halbwegs toleranter Zeitgenosse etwas dagegen einzuwenden, dass manche seiner Mitmenschen allen geistigen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte zum Trotz einmal jährlich mit mächtigem Krawall imaginäre Geister austreiben wollen (oder was immer sonst sie zu ihrem sinnfrei-destruktiven, rational nicht erfassbaren Tun veranlassen mag). Auch war der Verfasser dieser Zeilen ausgangs 2004 ernsthaft bemüht, nicht darüber nachzudenken, wie viele Seebebengeschädigte man wohl wie lange allein mit jenen Ressourcen hätte am Leben erhalten können, die statt dessen in seiner Tausend-Seelen-Gemeinde in dieser Nacht in Schall und Rauch verpufften. Und nicht zuletzt habe ich durchaus Verständnis für das Bedürfnis der Nachbarschaft, die eigenen Lütten an diesem einen Abend bereits deutlich vor dem gesetzlich zulässigen Zeitfenster um Mitternacht herum mit Knallfröschen bei Laune zu halten (wie wäre es beispielsweise mit zusätzlicher Lärmlegalisierung von 18 bis 19 Uhr?).

Wenn sich der Böllerterror allerdings fast ohne Atempause (vom Nachregeln des Alkoholpegels kurz vorm Datumswechsel abgesehen) vom Nachmittag hin über die halbe Nacht erstreckt, bis noch der eingefleischteste Pazifist sich an Gewaltphantasien weidet, dann stellt sich zivilisierten Menschen schon mal die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit ihrer humanoiden Mitwelt. Wer derart gedanken- und rücksichtslos vorgeht beim Ausleben seiner primitivsten Triebe, den mag man sich wirklich nicht gern am Steuer eines Autos oder beim Ausüben seines Wahlrechts vorstellen …

notiert am 31. Dezember 2004 nach 23 Uhr