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Genf — Vanoise — Assietta-Kammstraße — Queyras — Alpe d’Huez — Grenoble (2001)

 

1. Etappe: Genf — La Croisette — Annecy — Crêt de Chatillon — Le Chatelard — St. Pierre d’ Albigny (137 km, ca. 2600 Hm)

Nach schier unendlicher Bahnanreise und einer nicht minder grässlichen Nacht im Großraumzimmer (aus dem Alter, in dem man als Einzelreisender in der Jugendherberge absteigen sollte, bin ich eigentlich raus) geht der Tag gleich mit ordentlichem Schweißvergießen los. Die Straße von Westen rauf nach La Croisette ist auf fünf Kilometern so steil, dass ich mich in Rechtskurven partout nicht um das Rechtsfahrgebot schere, einfach um nicht schieben zu müssen …

Rund um den ersten Pass der Tour, den Col des Pitons (1340m), genieße ich bei minimalem Verkehrsaufkommen hübsche Fernsicht und sause dann runter nach — denkste. Annecy ist zu diesem Zeitpunkt für Radler nicht zugänglich. Die einzige prinzipiell freigegebene Einfallstraße wird gerade großflächig umgegraben, ansonsten Autorouten, so weit das Auge reicht. Durch etliche Kreisel quäle ich mich irgendwie rein und zum Lac d’Annecy, lasse die Tourismus-Hochburg aber schnell hinter mir und stelle mich der Herausforderung des Crêt de Chatillon (zumindest am ersten Tag solch einer Tour können 1200 Hm auf 19 km noch als Herausforderung durchgehen).

Weiter geht es auf den Spuren der heutigen Tour-de-France-Etappe durch beschauliche Landstriche über den unschwierigen Col du Frène. Zum Tagesausklang gibt es hier eine schnucklige Serpentinenabfahrt sowie anschließend ein nettes Hotel in St. Pierre.

 

2. Etappe: St. Pierre — Beaufort-sur-Gervanne — Cormet de Roselend — Bourg St. Maurice (90 km, knapp 2000 Hm; halber Pausentag)

Beim Aufstehen strömender Regen; soweit ich Radio und Lokalzeitung diesbezüglich verstehe, soll es heute auch so bleiben. Na gut, dann sinkt eben das Sonnenbrandrisiko. Hinter Albertville kann ich dennoch der Versuchung des schmalen, steilen Nebensträßchens nach Molliessoulaz nicht widerstehen, um wenigstens von innen warm zu werden.

Dem gleichen Zweck dient auch das sehr ausgeprägte zweite Frühstück in einer Crêperie Beauforts, bevor ich mich dem potenziell wunderschönen Cormet de Roselend zuwende. Eine anfangs perfekt ausgebaute, gleichmäßig zu fahrende Straße mit vielen Reizen fürs Auge, und immer noch ein Kürvlein mehr, wenn man grade denkt, der Scheitelpunkt sei zum Greifen nah. Leider ist das Wetter nach wie vor miserabel, weshalb es mich nicht lange oben hält. Der auf der Ostseite ohnehin schlechte Belag der prächtig kurvenreichen, aber schmutzigen Piste wird durch den Dauerregen auch nicht griffiger, so dass die Abfahrt sich als knifflig und bremsbelagmordend erweist.

Zum Glück gibt es in Bourg St. Maurice nicht nur gleich im ersten Hotel ein anständiges Zimmer (die Wirtin drückt mir mit dem Schlüssel die TV-Fernbedienung in die Hand und sagt, auf welchem Kanal die TdF läuft), sondern auch einen gut sortierten Technicien du Sport, bei dem ich sicherheitshalber noch einen Satz Bremsgummis besorge — wer weiß, wie lange das Wetter so bleibt.

Für heute nicht mehr lange: Nachmittags gibt es schon wieder blendenden Sonnenschein. Also noch ein ausgedehnter Bummel durch das leidlich niedliche Bourg St. Maurice, bevor ich mir abends eine üppige Portion Quenelle (in dieser regionalen Variante überbackene Klößchen mit Ei) schmecken lasse.

 

3. Etappe: Bourg St. Maurice — Val d’ Isère — Col de l’Iseran — Lanslevillard — Col du Mont Cenis — Susa (122 km, ca. 2900 Hm)

Dass ich den Iseran großartig finde, schrieb ich schon andernorts. Die Vorfreude motiviert mich so, dass ich den gesamten 45-km-Anstieg, abgesehen vom Wassernachfüllen in Val d’Isère, ohne Pause absolviere. Und als hätte ich es verdient, gibt es auch diesmal wieder traumhaftes Wetter mit perfekter Fernsicht. Die hinteren zwei Drittel der Abfahrt nach Westen sind allerdings auch ebenso scheußlich wie damals; kräftiger Gegenwind, so dass ich stetig mittreten muss, bergab ist fast so viel Arbeit zu leisten wie auf dem 150-Höhenmeter-Gegenanstieg bei Bessans.

Mehr Freude macht es dann wieder ab Lanslevillard hinauf zum Col du Mont Cenis. Hier habe ich vom Kartenbild her viel (Schwer-)Verkehr erwartet; die sacht ansteigende, breite Straße wäre auch dafür ausgelegt. Aber ich habe Glück und begegne nur wenigen Kraftfahrzeugen. Der Col selbst hat keinen klar definierten Scheitelpunkt, sondern erstreckt sich auf einer Art Hochebene rund zehn Kilometer sanftwellig längs eines Sees, gesäumt von bizarren Befestigungsanlagen, die in unfreundlicheren Zeiten wohl mal die Grenze sicherten.

Die Strecke nach Susa schließlich ist selbst für einen eher zurückhaltenden Abfahrer wie mich ein Genuss: Mehr als 20 Kilometer auf frisch asphaltierter Straße von einer Spitzkehre zur nächsten, zwischendurch mal eine Passage zum Rollenlassen — zur Perfektion fehlt eigentlich nur das angemessene Panorama, denn leider fährt man über weite Strecken im Wald.

Susa hat wiederum ein üppiges Gastro- und Herbergs-Angebot; den Nachmittag verbringe ich wie gestern mit dem Testen von Straßencafés, und abends wird natürlich italienisch geschlemmt.

 

4. Etappe: Susa — Colle delle Finestre — Assietta-Kammstraße — Sestrière — Cesana-Torinese — Col de Montgenèvre — Briançon (98 km, ca. 3100 Hm; davon Schotter/Geröll ca. 48 km, 1600 Hm)

Die vermutlich schönste Straße des Universums beginnt kurz hinter Susa. Eng und steil windet sich eine auf meiner Landkarte kaum wahrnehmbare Piste in vielen Serpentinen dem Colle delle Finestre entgegen. Nach elf Kilometern neigt sie sich erstmals zurück, so dass ich durchatmen und zum Müsliriegel in der Trikottasche greifen kann, und dann geht der Spaß richtig los: Schotter, anfangs allerdings mit dem Rennrad noch gut befahrbar. Der Wald geht in reizvolle Bergwiesen über, es eröffnen sich Fernblicke unter strahlendblauem Himmel; eine junge Bergère schenkt mir ein Lächeln, ansonsten habe ich die staubige Straße nahezu für mich … Radlerherz, was begehrst du mehr?

Nach 1600 Hm und 19 km ist die erste Passhöhe des Tages erreicht; von der verfallenen Fortification schweift das Auge nach Osten, wo sich der erste Teil der Kammstraße bereits erkennen lässt, die ich nach etwas Klönschnack mit einem hilfsmotorisierten Kollegen zügig in Angriff nehme. Als gute Idee wird es sich später erweisen, dass ich das Restaurant kurz hinter der Weggabelung ansteuere für ein zweites Frühstück sowie zum Aufstocken des Wasservorrats; auf den folgenden 40 Kilometern gibt es dafür nämlich keine Gelegenheit mehr.

Wozu auch? Ich bin stundenlang voll ausgelastet damit, bei starkem Wind die bepackte Rennmaschine auf der zunehmend derben Schotterpiste zu halten und zugleich das unglaubliche Alpenpanorama um mich herum in mich einzusaugen — in jeder Hinsicht ist diese Tour eine Grenzerfahrung erster Güte. Die Trasse hält sich knapp unterhalb des Kamms, mal links, mal rechts, kontinuierlich zwischen 2200 und 2550 Metern Höhe; entsprechend kalt ist es, doch wahrscheinlich sorgen vor allem die ständig wechselnden Bilder an diesem perfekt klaren Tag für Gänsehaut.

Ein paar Enduro-Piloten und ein Pulk von Jeeps überholen mich im Laufe des Tages, außerdem sehe ich eine Wanderer-Gruppe und zwei Mountainbiker, letztere beim Reifenflicken, doch die meiste Zeit bin ich mit den Murmeltieren allein. Die (ungefedert leider geradezu brutale) abschließende Abfahrt vom Colle Basset nach Sestrière unterbreche ich noch für ein Pläuschchen mit drei alten, picknickenden Italienern sowie einen Tropfen Piemonteser Roten.

Nachdem ich die letzten 60 Kilometer in bescheidenen 7:15 Stunden zurückgelegt habe, bin ich letztlich erleichtert, das ästhetisch eher halbverdaute Sestrière zu erreichen — und vor allem die Straße von hier nach Cesana, die auf den Massenansturm des Winters ausgelegt ist und dem einsamen Rennradler willkommene Gelegenheit zum schwerelosen Sausen bietet. Der Kulturschock des Tages folgt sodann in Gestalt des verkehrverpesten Col de Montgenèvre, auf dessen gut ausgebauten Spitzkehren hinab nach Briançon ich mir zum Finale des Tages ein wenig Haschmich mit Sattelschleppern leiste.

Drei Übernachtungen in der „Auberge Le Mont-Prorel“ habe ich bereits von daheim gebucht; den Abend verbringe ich gemütlich in der höher gelegenen Altstadt, wo ich mich den Freuden eines hervorragenden Ziegenkäsesalats sowie einer exquisiten Pizza mit Tomme de Savoie und Ei hingebe.

***

Nach dem Gerüttel der Assietta-Straße gönne ich mir einen fahrradfreien Tag und verbringe mit Creszenzos Geschichte der griechischen Philosophie ein paar kurzweilige Stunden auf dem Berg, den die Seilbahn vor meinem Hotel erschließt.

 

5. Etappe: Briançon — Col d’Izoard — Ville-vieille — Col Agnel — Col d’Izoard — Briançon (124 km, ca. 3900 Hm)

Zur Vorbereitung auf die geplante Königsetappe folgt eine Trainingsfahrt ohne Gepäck. Los geht es über den bereits bekannten Izoard-Pass ins Queyras, diesmal aber nicht zum Mont Viso, sondern zum Col Agnel. Diese mäßig befahrene Nebenstrecke hinüber nach Italien ist aus Radfahrersicht ein ausgesprochenes Schmuckstück: landschaftlich attraktiv und fahrerisch abwechslungsreich. „Abwechslung“ bedeutet allerdings auch, dass man auf den 21 Kilometern bis hinauf auf 2744 Meter kaum einmal seinen Rhythmus findet, weshalb der Agnel von der Nordseite einer der anspruchsvolleren Pässe ist, die ich bislang erfahren habe. Nun gut, ich habe Zeit und genieße den schiefrigen Glanz der umgebenden Dreitausender im gleißenden Sonnenlicht.

Mangels Alternative nehme ich denselben Weg zurück und tue mich an der Südseite des Izoard unerwartet schwer; so steil war er doch bergab nicht?! Ich werte das allerdings als gutes Zeichen, denn den Umstand, dass ich am Tag vor einer besonders schwierigen Tour weniger gute Beine habe, kenne ich bereits zur Genüge.

 

6. Etappe: Briançon — Col du Lautaret — Col du Galibier — St. Jean de Maurienne — Col de la Croix de Fer — Le-Bourg-d’Oisans — L’Alpe d’Huez (175 km, ca. 4300 Hm)

Hart. Sehr hart. Aber großartig. Wer bereits bei den jährlichen Fernsehbildern von Alpe schaudert, sollte es unbedingt wagen, dieses Zentralheiligtum des Radsports als Schlussanstieg einer langen Tagestour unter die Reifen zu nehmen. Aber ich greife vor …

Die Straße zwischen Briançon und dem Col du Lautaret lädt nicht nur bergab, sondern auch bergauf zum Sausen ein. Außer einem dunklen, kurvigen Tunnel (der sich allerdings umfahren lässt) hält der Aufstieg auf gut 2000 Meter keine Schwierigkeiten bereit; auch mit Reisegepäck und viel In-die-Landschaft-gucken ist ein Schnitt von fast 20 km/h drin.

Oben geht es gleich weiter, denn der Galibier schließt sich unmittelbar an. Das bedeutet eine knappe Stunde kräftigen Schwitzens, da die Steigung ab der Lautaret-Passhöhe sehr deutlich anzieht. Zur Entschädigung wird die Landschaft spektakulärer, und das eine oder andere Murmeltier grüßt auch.

In Valloire halte ich zum zweiten Frühstück an, statt den Schwung der berauschenden Abfahrt für die 150 Hm Gegenanstiegs zum Télégraphe zu nutzen. Aber auch so fällt dieses Steigungchen kaum ins Gewicht, bevor es auf der prächtigen Serpentinenstraße hinab ins Tal der Maurienne geht. Zwischen St. Michel und St. Jean habe ich es leider mit kräftigem Gegenwind und Hitze zu tun, so dass ich froh bin, als (nach halbstündiger Suche nach einem Brunnen) die Auffahrt zum Croix-de-Fer-Pass losgeht.

Dieser ist von Norden wiederum einer der schwereren Brocken: dazu trägt die Streckenlänge von immerhin 31 km (für rund 1500 Hm) ebenso bei wie der Umstand, dass die Steigungsgrade fast permanent variieren. Aber fürs Auge hat diese Strecke einiges zu bieten: Vom engen, bewaldeten Tal untenherum über das liebliche Hochtal des Arvan hinauf in eine zunehmend unwirtliche, karge Alpenlandschaft.

Die Abfahrt vorbei am Stausee von Allemond nach Le-Bourg-d’Oisans kennt man von mancher TdF-Übertragung. Dass dieser kurze, steile Zwischenanstieg auf halber Höhe derart in den Oberschenkeln brennt, sieht man in der Glotze allerdings nicht. Tja, und dann rollt man durch Le-B.-d’O. und steht schließlich (mit bereits mehr als 3000 Höhenmetern in den Beinen) vor der ersten Serpentine der Steilwand hinauf nach Alpe … In diesem Moment zu wissen, dass man da heute irgendwie auch noch raufkommt, setzt so viele Glückshormone frei wie sonst kaum eine der vielen Traumstraßen in luftigen Höhen; diese konzentrierte Vorfreude ist sogar noch intensiver als der Moment rund anderthalb Stunden später, als ich schließlich oben ankomme. Und auf dem Weg dorthin genieße ich jeden einzelnen Meter. Nicht dass ich noch nennenswert Augen fürs Panorama hätte — aber noch die Rückschau, Jahre später, auf dieses quintessenzielle Erlebnis des Bergfahrens beschleunigt den Puls :-)

 

7. Etappe: L’Alpe d’Huez — Le-Bourg-d’Oisans — Col d’Ornon — La Mure — Vizille — Uriage — Grenoble (107 km, ca. 1100 Hm)

Nach diesem Vortag ist keine Steigerung mehr denkbar. Deshalb rolle ich erst mal gemütlich durchs Vorgebirge über den unspektakulären, doch ausgesprochen niedlichen Col d’Ornon und genieße später eine tolle Sausestrecke auf 6 Kilometern hinab nach Vizille. Der weiteren Tagesplanung (Richtung Chamrousse, erst am nächsten Tag abschließend nach Genf) steht die Wetterentwicklung entgegen: Über den Bergen braut es sich sehr dunkel zusammen, weshalb ich es bevorzuge, mittags nach Grenoble abzufahren und von dort die Bahn zu nehmen. Weshalb die Erinnerung an eine phänomenale Woche noch mit einer Zitterpartie im Gewitterregen trüben?